Sinti und Roma in Deutschland

Artikel von Planet Wissen

"Zigeunerinnen" im Warschauer Ghetto Photographie Warschau, 1941-1943 DHM, Berlin Schönstein 1929

„Zigeunerinnen“ im Warschauer Ghetto
Photographie
Warschau, 1941-1943
DHM, Berlin
Schönstein 1929

Aufbruch nach Europa
Vor mehr als 1000 Jahren brachen sie auf, eine neue Heimat zu finden. Ihre Wanderung führte die Sinti und Roma nach Europa, wo sie sich in verschiedenen Ländern niederließen: die Sinti vorwiegend im heutigen Westeuropa, die Roma eher in Ost- und Südosteuropa. Lange wurde gerätselt, woher sie ursprünglich kamen. Erst im 18. Jahrhundert entdeckten Sprachforscher Parallelen zwischen dem altindischen Sanskrit und den Sprachen der Sinti und Roma, Romenes und Romanes. Damit gilt heute als sicher, dass sie aus Nordwest-Indien stammen. Doch was die Menschen damals bewog, ihre Heimat zu verlassen und Richtung Europa zu wandern, ist nach wie vor unbekannt. Möglicherweise war das Vordringen des Islams eine Ursache. Eine weitere Theorie besagt, dass die Sinti und Roma zu Tausenden als Sklaven verschleppt worden seien.

Deutschland – Ankunft und Verfolgung
In Deutschland wurden die Sinti 1407 in Hildesheim erstmals urkundlich erwähnt. Weitere Städte, auch in den Nachbarländern, folgten. 1423 gestattete König Sigismund den Sinti in einem Schutzbrief ihre eigene Gerichtsbarkeit und versuchte gleichzeitig, sie vor Übergriffen zu schützen.
Doch schon gegen Ende des Jahrhunderts hatte sich die Situation gewaltig geändert: 1496 und 1498 hoben die Lindauer und Freiburger Reichstage den Schutzbrief auf. Wenig später erklärte der Augsburger Reichstag die „Zigeuner“, wie sie damals genannt wurden, für vogelfrei. Weitere Reichstage folgten. Von nun an durfte jeder die Sinti verfolgen oder gar ermorden – und blieb straffrei. Die Zünfte untersagten den Sinti die Ausübung von Handwerksberufen, viele deutsche Landesherren verboten ihnen den Aufenthalt im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“.
Zu ähnlichen Verfolgungswellen kam es in ganz Europa. Erst Ende des 18. Jahrhunderts besserte sich die Situation, zumindest was die Verfolgung anging. Das Recht, sich an einem Ort niederzulassen, erhielten die Sinti jedoch nicht. Aus der erzwungenen Nichtsesshaftigkeit, die immerhin mehrere Jahrhunderte dauerte, wurde ihnen später ein Vorwurf gemacht. Das Vorurteil, Sinti und Roma seien „fahrende Völker“, hält sich bis heute.

Kehrtwende – die Zwangseingliederung
Mitte des 18. Jahrhunderts kehrte mit den Ideen des Humanismus eine Wende in der Politik ein. Statt die Sinti weiter zu verfolgen, sollten sie nun zwangsweise sesshaft gemacht werden. Da die Sinti keineswegs freiwillig umhergezogen waren, sondern immer auf der Flucht vor Aufenthaltsverboten, Verfolgung und Ermordung, hätte die Wende in der deutschen Politik eigentlich eine gute Nachricht sein können. Doch es kam anders: Es ging keineswegs nur um die Sesshaftigkeit, sondern vielmehr um eine Zwangseingliederung. Für die Sinti, und später die Roma, begann eine neue Zeit der Verfolgung: Je nach Wohnort wurde ihnen die Pflege ihrer Kultur und Sprache verboten. Die Jugendlichen mussten ein Handwerk lernen und wurden zum Militär verpflichtet. Viele Sinti-Kinder wurden den Familien entrissen und zwangsdeportiert. Nur in wenigen Gegenden Deutschlands war die Situation besser: Wo es keine Verfolgung gab, entwickelte sich über die Jahrhunderte ein friedliches Zusammenleben zwischen den Sinti und der ansässigen Bevölkerung.

Erste Forschungen
1783 ebnete das Buch „Die Zigeuner“ von Heinrich Moritz Grellmann der rassischen Verfolgung der Sinti und Roma den Weg. Seine These, dass alle negativen Charakterzüge, die man den Sinti nachsagte, angeboren seien, machte Schule. Eine „bürgerliche Verbesserung“ der Sinti sei nicht möglich. Autoren, Politiker und Bürokraten übernahmen Grellmanns Thesen.
Kurz vor Grellmann hatte der Sprachforscher Johann Christoph Rüdiger die sprachliche Verwandtschaft zwischen dem Romanes und dem indischen Sanskrit entdeckt. Er untersuchte auch die Gründe für die Feindseligkeiten gegenüber den Sinti und kam zu dem Schluss, dass vor allem der „Volkshass“ und die „Zurücksetzung durch den Staat“ schuld seien. Mit seinen Ansätzen konnte sich Rüdiger jedoch nicht durchsetzen.

Verfolgung im Deutschen Reich
1864 hoben Bulgarien und Rumänien die Leibeigenschaft auf – auch die dortigen Roma waren nun frei. Viele versuchten in westliche Länder auszuwandern, stießen jedoch auf massive Ablehnung. Ein Großteil der Roma schaffte es gar nicht erst über die Staatsgrenzen. Ab 1886 wurden „Zigeuner ohne deutsche Staatsangehörigkeit“ zwangsweise zurücktransportiert. Fünf Jahre später erließ der deutsche Bundesrat „Anweisungen zur Bekämpfung der Zigeunerplage“.
Die systematische, bundesweite Registrierung und Überwachung der Sinti und Roma nahm 1899 in Bayern ihren Anfang. Der Einrichtung der nachrichtendienstlichen Stelle folgte 1926 durch ein Sondergesetz die neue „Zigeunerpolizeistelle“ beim Regierungspräsidium München. Mit der Registrierung – so wurden beispielsweise allen Sinti und Roma Fingerabdrücke abgenommen – wurde der Grundstein für die spätere Ermordung durch die Nationalsozialisten gelegt. Bis Anfang der 1930er Jahre waren fast alle Sinti und Roma im Deutschen Reich sesshaft und hatten die deutsche Staatsbürgerschaft.

Massenmord im Dritten Reich
Direkt nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden die Sinti und Roma erneut verfolgt. Sie verloren die deutsche Staatsbürgerschaft, viele wurden ab Mitte der 1930er Jahre in Lagern interniert und mussten Zwangsarbeit leisten. Kinder durften keine Schule mehr besuchen, es gab Berufsverbote, spezielle Meldepflichten und zahlreiche Einschränkungen im täglichen Leben. Das Reichsgesundheitsamt begann, die Sinti und Roma mit Rassegutachten zu erfassen. Ab 1940 wurden die ersten Familien in Konzentrationslager deportiert. Etwa eine halbe Million Sinti und Roma wurden dort ermordet.

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Antiziganismus in der Nachkriegszeit
Nach dem Ende der Nazi-Diktatur wurden die Sinti und Roma keineswegs als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, die Ermordung von rund 500.000 Menschen galt nicht als Völkermord. Entsprechend wurden den Überlebenden Entschädigungen, Hilfen und die Anerkennung als Opfer verweigert. Selbst die deutsche Staatsbürgerschaft, die ihnen die Nazis entzogen hatten, wurde ihnen zunächst verweigert, was dazu führte, dass viele Sinti und Roma für lange Zeit staatenlos blieben. Doch gerade der Nachweis der deutschen Staatsbürgerschaft war eine der Voraussetzungen, um als Opfer des NS-Regimes anerkannt und entschädigt zu werden. 1956 urteilte der Bundesgerichtshof (BGH), bei den Deportationen der Sinti und Roma habe es sich bis 1943 keinesfalls um die rassische Verfolgung einer Minderheit gehandelt. In der Urteilsbegründung schreibt der BGH: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ Dieses Urteil hatte bis 1963 Bestand.
Auf Grundlage der Akten, die die Nazis angelegt hatten, wurden in den 1960er Jahren sogenannte „Landfahrerzentralen“ eingerichtet, in denen die Sinti und Roma erfasst wurden. Zahlreiche Erlasse, Veröffentlichungen und Gerichtsurteile zementierten die alten Vorurteile gegenüber den Sinti und Roma. Die bayerische Landfahrerordnung von 1953 beispielsweise entsprach im Wesentlichen dem sogenannten „Zigeunergesetz“ der Nazis. Es dauerte bis 1970, bis sie aufgehoben wurde, da sie nicht mit dem Grundgesetz vereinbar war.
Vielfach waren die überlebenden Sinti und Roma in der Nachkriegszeit mit den Tätern des Nazi-Regimes konfrontiert, die sich in der Bundesrepublik erneut mit ihnen befassten. Beamte des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts erhielten nun Posten in den Landeskriminalämtern oder den Landfahrerzentralen. Auch Mediziner, die maßgeblich zum Völkermord an den Sinti und Roma beigetragen hatten, durften unbehelligt weiterarbeiten.

Die Bürgerrechtsbewegung
Ende der 1970er Jahre machten die Verbände der Sinti und Roma mit öffentlichen Veranstaltungen auf die Missstände aufmerksam. Nach massivem öffentlichem Druck erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im März 1982 die Ermordung der Sinti und Roma offiziell als Völkermord aus rassischen Gründen an. Kurz zuvor war der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg gegründet worden. Die Verbände bemühen sich seit Jahrzehnten, der ständigen Diskriminierung und Kriminalisierung entgegenzuwirken. Doch der Antiziganismus ist in weiten Teilen der Bevölkerung noch immer stark verbreitet, Sinti und Roma haben im Alltag mit erheblichen Vorurteilen zu kämpfen. Seit 1995 sind Sinti und Roma als nationale Minderheit geschützt.

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Sinti und Roma heute
Noch während die deutschen Sinti und Roma gegen die ständige Diskriminierung und für Gleichbehandlung kämpften, trat mit Ende des Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien und dem Kosovo-Konflikt in den 1990er Jahren eine neue Situation ein: Rund 50.000 Roma kamen von dort als Flüchtlinge in die Bundesrepublik, etwa 20.000 von ihnen Kinder. Ein Großteil der Flüchtlinge ist bis heute nur geduldet und ständig von Abschiebung bedroht. Besonders brisant ist die Situation der Kinder: In manchen Bundesländern dürfen sie keine Schule besuchen, in anderen ist der Schulbesuch zumindest freiwillig möglich. Viele Kinder wachsen in Deutschland auf, ohne je eine Schule besucht zu haben. Dazu kommt, dass die Flüchtlingsgruppen oft in abgelegenen Gegenden in provisorischen Unterkünften leben müssen. Die Erwachsenen dürfen keine Arbeit aufnehmen und auch keine Sprach- oder Integrationskurse besuchen. Heute leben in Deutschland etwa 120.000 Sinti und Roma, davon 70.000 mit deutscher Staatsbürgerschaft.

 
 
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