Deutschland hat in den letzten Jahren hunderttausende geflüchteter Menschen aufgenommen. Das war und ist eine immense Herausforderung für Gesellschaft, Verwaltung und Politik.Wir Grüne wollen als Frauenrechts- und als Integrationspartei den Auftrag annehmen, diese notwendige Debatte auch im Kontext mit Migration und Integration ehrlich zu führen.
Hier gibt es das vollständige Diskussionspapier:
Zuwanderungsgesellschaft stärken – Frauenfeindlichkeit bekämpfen
Deutschland hat in den letzten Jahren hunderttausende geflüchteter Menschen aufgenommen. Das war und ist eine immense Herausforderung für Gesellschaft, Verwaltung und Politik. Wir Grüne haben uns immer klar zur Verantwortung gegenüber Geflüchteten bekannt. Integration ist für beide Seiten anstrengend und voraussetzungsvoll. Sie bietet für beide Seiten Chancen, birgt aber auch Risiken und kann gar scheitern.
Zu einer ehrlichen Debatte gehört, dass auch wir Befürworter*innen der Einwanderungsgesellschaft uns fragen, was für ein Frauenbild manche Gruppen haben, die zu uns kommen. Eines nämlich, das die Nichtachtung von Frauen bis hin zur Ausübung von Gewalt zu legitimieren scheint. Dass Gewalt gegen Frauen durch deutsche Täter seit jeher ein gravierendes Problem ist, darf nicht dazu führen, dass wir die Frage nach dem „eingewanderten Frauenbild“ gar nicht erst stellen. Es nützt uns allerdings auch nichts, bei dieser Debatte stehen zu bleiben. Wir müssen etwas tun.
Die übergroße Mehrheit der Geflüchteten ist nicht kriminell – wie auch die übergroße Mehrheit der Deutschen nicht kriminell ist. Gleichwohl begehen auch v.a. junge Geflüchtete erhebliche Gewalttaten. Junge Männer generell tendieren überproportional zu Gewalt, erst recht, wenn sie in prekären Verhältnissen leben. Hier angekommene Geflüchtete sind durchschnittlich sehr jung, oft ohne Begleitung durch ihre Familien und stehen vor einer ungewissen Zukunft. Viele, vielleicht die Meisten, haben vor oder auf der Flucht selbst drastische Gewalterfahrungen gemacht. In Deutschland leben sie vielfach in Sammelunterkünften ohne Privatsphäre, ohne sinnvolle Beschäftigung und mit unklarer Perspektive. Dieser Verlust von Selbständigkeit bis in das Alltagsgeschehen hinein und die gesellschaftliche Isolation können Gewalt fördern. Das mag einiges erklären, mitnichten aber entschuldigen. Noch weniger als Entschuldigung dienen kulturelle Einstellungen, die Gewaltausübung begünstigen oder gar legitimieren.
Viele Geflüchtete kommen aus muslimisch geprägten Gesellschaften, die stark patriarchalisch geformt sind und keine Aufklärung, Säkularisierung, Frauenbewegung und sexuelle Revolution erlebt haben. Wenn bestimmte Gruppen ihre Geringschätzung oder völlige Missachtung von Frauenrechten aus kulturell-religiösen Argumenten und Werten speisen, dann ist das nicht tolerierbar. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, muss sich von herabwürdigenden Frauenbildern lösen, welche Frauen als den Männern untergeordnet definieren. Einen „kulturellen Freischein“ für Frauenfeindlichkeit gibt es nicht. Dass das natürlich für Männer jeglicher Herkunft gilt, muss nur deshalb betont werden, weil in der Diskussion um Geflüchtete plötzlich Akteure ihr Interesse für die Belange von Frauen entdecken, die den Einsatz für Frauenrechte ansonsten als „Genderwahn“ lächerlich machen. Lösungsvorschläge jenseits von „Grenzen dicht“ und „Ausländer raus“ hört man von ihnen ansonsten nicht.
Wir Grüne müssen klar genug sein gegenüber dem Teil von Migranten, die ein reaktionäres Frauenbild mitbringen – und daran festhalten. Wir müssen eine Antwort darauf geben, die sich nicht in kulturellen Zuschreibungen erschöpft, sondern in klares staatliches Handeln mündet. Eine Antwort, die Integration und dafür notwendige Lernerfahrungen ermöglicht und dabei frauenfeindlichem Denken und Tun eindeutig begegnet. Es muss einen elementaren Wertekanon geben, der für alle hier Lebenden gilt. Zu diesem gehören die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die konsequente Ächtung von Gewalt. Nur wenn das von allen hier anerkannt wird, kann die breite gesellschaftliche Akzeptanz für die Aufnahme von Geflüchteten dauerhaft erhalten bleiben. Gewalt gegen Frauen muss nicht nur mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt werden. Es müssen auch die mutmaßlichen Prägungen hinter diesen Taten angeprangert werden. Und die Täter müssen die Erfahrung machen, dass Gesellschaft und Staat ihre Taten nicht tolerieren, Opfer geschützt und Täter konsequent verfolgt werden.
1.Opferschutz zeigt Tätern Grenzen
Frauen und Kinder in Flüchtlingsunterkünften sind eine besonders vulnerable Gruppe, besonders, wenn sie in Sammelunterkünften oder anderweitig relativ isoliert leben müssen. Das ist der Ort, an dem Geflüchtete die erste Erfahrung damit machen, ob und wie konsequent Deutschland Frauen vor Gewalt schützt und Straftaten verfolgt werden. Mit teilweise recht einfachen Maßnahmen könnte deren Unversehrtheit viel besser als bisher geschützt werden. Aber die Standards und Ausstattungen in den Sammeleinrichtungen für Geflüchtete sind recht unterschiedlich. Um überall solide, sichere Verhältnisse zu gewährleisten muss die Implementierung von Gewaltschutzsystemen in Flüchtlingseinrichtungen bundesgesetzlich erzwungen werden. Diese reichen von baulichen Maßnahmen über Anforderungen an das Personal, über Beschwerdesysteme bis hin zum uneingeschränkten Zugang zu einem Hilfetelefon. Bisher hat sich die Bundesregierung geweigert, solche Schutzstandards verpflichtend ins Gesetz zu schreiben.
Es ist zudem ein unhaltbarer Zustand, dass Geflüchteten und ihren Kindern im Bedarfsfall der Schutz in Frauenhäusern oft aufgrund der Residenzpflicht oder wegen fehlender Leistungsansprüche unmöglich gemacht wird. Hier müssen schnell Hürden aus dem Weg geräumt werden, die im Kontext von Gewalterfahrung ihre Berechtigung verlieren. Frauen müssen sich darauf verlassen können, Täter müssen von Anfang an wissen, dass jede Verletzung unseres Wertekanons Konsequenzen hat.
Tatsächlich fehlt es aber an einer flächendeckenden, qualifizierten Notfallversorgung für von Gewalt bedrohte oder betroffene Frauen. Es gibt viel zu wenig Schutzplätze in Frauenhäusern und zu wenig spezifische Beratungsstellen. Die Finanzierung dieser Einrichtungen ist unzureichend und unstet. Die Mittel für Prävention sind viel zu gering. Es gibt Modellprojekte, die die Bedingungen für die medizinische Versorgung und Beweissicherung von Opfern sexualisierter Gewalt in Notfallambulanzen verbessern. Aber eben nur Modellprojekte. Da es sich hier vielfach um Notfalltatbestände handelt, bei denen die Regelsysteme nicht oder nur sehr verspätet greifen, wäre eine finanzielle Beteiligung des Bundes in diesem Bereich absolut vertretbar. Die Bundesregierung hat zwar einen Diskussionsprozess mit den Bundesländern angestoßen – der Ausgang ist aber mehr als ungewiss; auch weil die Bundesregierung sich nicht dauerhaft und substantiell finanziell engagieren will.
2. Justiz und Polizei brauchen Kapazitäten für den Schutz von Frauen
Die oben postulierte volle Härte des Gesetzes kann – unabhängig von der Herkunft der Täter – nur greifen, wenn Polizei und Gerichte personell wesentlich besser ausgestattet werden. Ansonsten bleibt diese Forderung eine leere Floskel. Strafverfolgungsbehörden müssen auch hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema Gewalt gegen Frauen allgemein besser geschult sein. Angemessene verfahrensbegleitende Maßnahmen für betroffene Frauen müssen verbindlich umgesetzt werden, damit keine Retraumatisierung droht. Obgleich der Bedarf faktisch von niemandem bestritten wird, gibt es hier weiterhin große Defizite. Fehlende Ressourcen bei der Justiz wirken sich auch auf die Verfahrensdauer aus, was Opfer stark belastet und die Abschreckungswirkung von Strafen abschwächt.
Die zügige Strafverfolgung ist unverzichtbar, um den Schutz von Frauen durchzusetzen. Wer aber die Abschiebung als vermeintlich einfachere Lösung regelmäßig an die Stelle der Strafverfolgung setzen will, schließt damit die stärkste und eindeutigste Reaktion des Rechtsstaats auf Gewaltkriminalität aus. Nur der Strafprozess genügt dem Strafbedürfnis des Staates und ermöglicht die Aufarbeitung der Tat, auf die auch die Opfer und deren Angehörige vertrauen. Wer Täter schwerer Gewalttaten ohne Prozess abschieben will, sanktioniert sie nicht anders als Menschen, denen zwar kein Asylgrund zuerkannt wurde, die sich aber ansonsten nichts haben zu Schulden kommen lassen. Dieses Signal wäre das völlig falsche.
Die Verurteilung wegen Gewaltstraftaten hat jedoch bereits nach geltendem Recht Folgen für den Verbleib in Deutschland. Eine Duldung darf nicht mehr erteilt werden. Ein bereits zuerkannter Asylstatus kann bei Wiederholungsgefahr entzogen werden. Die Inhaftnahme, schnelle Strafverfolgung und Abschiebung der Gewaltstraftäter unter den Geflüchteten scheitern nicht an rechtlichen Voraussetzungen. Sie scheitern vor allem an falscher politischer Prioritätensetzung in den Innenministerien. Um Gewalt zu verhüten, müssen Polizei und Justiz so ausgestattet sein, dass sie Haftbefehle vollstrecken und Strafverfahren zügig abschließen können. Stattdessen werden sie immer noch mit der Verfolgung von Bagatellen belastet. Um Gewalt zu verhüten, müssen sich Behörden und Polizei auf die vorrangige Durchsetzung der Abschiebung derjenigen konzentrieren können, von denen eine Gefahr ausgeht und bei denen die Verantwortung Deutschlands für Integration und Resozialisierung endet. Stattdessen fordert mancher Innenminister aber schlicht möglichst hohe Abschiebezahlen um fast jeden Preis. Das führt dazu, dass die Polizei mit der Abschiebung gut integrierter, unbescholtener Geflüchteter belastet wird, die die Integrationsbemühungen von Betrieben, Lehrkräften und Ehrenamtlichen zunichtemachen. Zu Lasten der oft aufwändigeren Verfolgung von Straftätern.
3. Prekäre Lebensbedingungen fördern Kriminalität
Gelingende Integration ist mühsam, langwierig, kostet Geld und erfordert einen Kraftakt von Gesellschaft, Institutionen und v.a. von den jeweiligen Einzelpersonen. Der Weg ist umso schwerer für Menschen, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, die oft nur eine vage Vorstellung von der Aufnahmegesellschaft hatten und von ihren Familien nicht auf dem Weg begleitet werden können. Wer in Deutschland Schutz sucht, muss bereit sein die deutsche Sprache zu erlernen, sich an Recht und Gesetz zu halten und ein gewisses Maß an Integrationswilligkeit mitbringen. Wir als Mehrheitsgesellschaft müssen aber auch Rahmenbedingungen schaffen, unter denen Integration möglich ist und neu Angekommene eine reale Chance haben, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Wer jahrelang, unter Umständen getrennt von der im Herkunftsland verbliebenen Familie, in einer beengten Gemeinschaftsunterkunft lebt und keine Gewissheit über den eigenen Status bekommt, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) immer noch dramatisch unterbesetzt ist, hat keine guten Startbedingungen. Das Fehlen von Privatsphäre, die allgemeine Perspektivlosigkeit und die möglicherweise traumatisierende Fluchterfahrung sowie der Verlust alter Gewissheiten und sozialer Netze können ihr übriges tun.
Die von der Bundesregierung aus Gründen der Abschreckung durchgesetzte massive Verschärfung des Familiennachzugs ist insofern nicht nur unmenschlich, sondern auch von einem integrationspolitischen Standpunkt aus höchst kontraproduktiv. Denn wer in permanenter Sorge um seine engste Familie im Krisengebiet lebt, kann nicht seine volle Energie auf Integrationsbemühungen verwenden.
Prävention kann aber auch schon im Kleinen wirken. Bei Unterbringung in Sammelunterkünften sollte Geflüchteten in Alltagsdingen eine möglichst hohe Autonomie und auch die Übernahme von Verantwortung ermöglicht werden. Auf Ebene der Asylverfahren müssen Prozesse beschleunigt werden. Das BAMF muss dazu endlich in die Lage versetzt werden.
Von herausragender Bedeutung sind Sprachkurse und eine intensive Wertevermittlung. Deshalb müssen nicht nur bestimmte Gruppen, sondern möglichst alle Geflüchteten frühzeitig Zugang in die Integrationskurse erhalten. Ferner müssen die Bemühungen intensiviert werden, dass die Berechtigten auch alle an den Kursen teilnehmen. Bei den wertevermittelnden Orientierungskursen spricht viel dafür, alle Geflüchteten zur Teilnahme zu verpflichten.
Mit laufender Aufenthaltsdauer geraten weitere direkte Integrationshilfen in den Fokus. Es gibt gut funktionierende Angebote wie Migrationsberatung für Erwachsene oder die Jugendmigrationsdienste, die aber schlecht finanziert sind. Hier wird schlichtweg am falschen Ende gespart. Bei den sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen braucht es bessere Unterstützung beim Übergang in die Volljährigkeit.
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Wir Feministinnen haben in Sachen Gleichberechtigung in Deutschland – gegen den Widerstand vieler deutscher Männer – viel, gleichwohl noch lange nicht genug, erreicht. Es mussten viele Kämpfe gefochten werden, um hierzulande patriarchale Strukturen aufzubrechen und deren schlimmste Ausprägung, Gewalt gegen Frauen, gesellschaftlich zu ächten und strafrechtlich voll zu ahnden. Wir Grüne wollen als Frauenrechts- und als Integrationspartei den Auftrag annehmen, diese notwendige Debatte auch im Kontext mit Migration und Integration ehrlich zu führen.
Autorinnen:
Ekin Deligöz, Mitglied des Deutschen Bundestages für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mitglied im Haushaltsausschuss und Obfrau der Fraktion im Rechnungsprüfungsausschuss. In der Türkei geboren und im Alter von 8 Jahren nach Deutschland gekommen. Einbürgerung im Jahr 1997. Kontaktdaten: ekin.deligoez@bundestag.deDr.
Manuela Rottmann, Mitglied des Deutschen Bundestages für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Obfrau der Fraktion im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Von 2006 bis 2012 hauptamtliche Dezernentin für Umwelt, Gesundheit (ab 2011 auch für Personal) im Magistrat von Frankfurt am Main. Kontaktdaten: manuela.rottmann@bundestag.de
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